7.
Okt.
2018

Systemdenken und Politik

Bis vor Jahren war mir das Kipp-Moment unseres demokratischen Systems nicht so bewusst. Was soll denn sein? Ich war mir sicher, dass alles so bleibt. Ich kenne Leute, die bei bestimmten Wahlergebnissen das Land verlassen wollten. Richtig ernst genommen habe ich sie nicht. Gut, sie sind dann auch geblieben. Vielleicht waren die Ergebnisse zu dürftig.

In den letzten Jahren hat sich für mich aber etwas verändert. Vielleicht hat es mit meinem Alter zu tun, mit einer Desillusionierung. Die Medienwelt spielt sicher eine Rolle und dass ich zu viel auf Twitter bin. Vielleicht sind es die neuen Erkenntnisse der Sprach- und Kognitionsforschung und das Spiel mit politischem Framing. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mir zunehmend ein kalter Schauer über den Rücken läuft, wenn ich das tagespolitische Spiel in Österreich betrachte. Da ist etwas passiert. Da kippt ein System.

Wir brauchen Heldenerzählungen.

Ich bin heute über einen Tweet von Florian Klenk gestolpert, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Einen Tag nach dem Rückzug von Christian Kern aus der Berufspolitik, twittert er: „Eine erstaunlich schwache Abschiedsrede. Wer mit internen Intrigen nicht fertig wird, bezwingt auch nicht Europas Rechtspopulisten.“ Das sitzt, das erntet Zustimmung und hat inhaltlich vielleicht auch seine Berechtigung. Da ist vielleicht aber auch die Trivialisierung eines komplexen Problems. Politik ist Person und wir sehnen uns nach Helden! Wir brauchen politische Erzählungen nach der Machart: Eine heldenhaft anmutende männliche Person führt die Geschicke, durchblickt alles, steuert mit der Kraft von Intelligenz, charismatischer Ausstrahlung, Ideologie oder Herrgott alles. Ein Kaiser, ein Fürst, ein Gott. Wir blicken auf, wir vertrauen, wir beten an. Ist das nicht ein Mindset aus der Industriezeit, dass sich heute irgendwie langsam in den Leerlauf katapultiert? Hinken wir damit nicht meilenweit den Anforderungen einer komplexen Wissensgesellschaft hinterher? Helden waren gestern. In den Unternehmen merke ich das an allen Ecken und Enden. Die wahren Helden sind die, die ermöglichen und intelligente Systeme bauen können. Sonst wird das nichts.

Das System gewinnt immer.

Ich bin Christian Kern nie begegnet. Ich habe ihn nur über verschiedenste Medien als höflichen, gebildeten und denkenden Politiker erlebt. Ähnlich ging es mir auch mit Matthias Strolz oder Reinhold Mitterlehner. Da war was im Kopf. Da war für mich ein Anliegen spürbar. Alle drei sind heute nicht mehr Teil der innenpolitischen Welt. Das können wir bejubeln, deren individuelles Versagen können wir in sonntäglichen Diskussionssendungen auf- und abdebattieren. Doch sollte uns dabei nicht ein wenig der Atem stocken? Können wir es uns als Gesellschaft wirklich leisten, auf solche Menschen in politischen Funktionen zu verzichten? Müssen wir nicht vielmehr eingestehen, dass hier das System wieder einmal gewonnen hat?

Systemdenken: Make a system see itself.

The essence of Systems Thinking is to make a system see itself, schrieb Otto Scharmer kürzlich auf Twitter. In diesem Sinne sollten wir dringend hinschauen und die unangenehmen systemimmanenten Eigenschaften unseres parteipolitischen Systems benennen: Silodenken, Schwarmdummheit, Strategie und Marketing vor Inhalten, Visionslosigkeit, Patriarchat und vieles mehr. Das politische System hat sich vom Rest der Gesellschaft abgekoppelt. Es funktioniert wie ein Kapserltheater. Wir schauen zu. Ab und zu wird dann unter Beifall ein Kasperl ausgetauscht. Wir klatschen, er war zu schwach.

Sollten wir statt zu klatschen nicht viel mehr darüber nachdenken, warum ein System weltoffene und gebildete Menschen wie Christian Kern, Matthias Strolz oder Reinhold Mitterlehner (und da gäbe es noch eine viel längere Liste) ausspukt? Sollen wir nicht darüber nachdenken, ob die zeitgeistige Zuschreibung individuellen Versagens wirklich stimmt? Sollten wir nicht darüber nachdenken, was der wenige Schlaf mit Politikern macht? Sollten wir nicht einen Bot für die vielen sinnlosen Eröffnungsreden engagieren und statt dessen Politiker zum inhaltlichen Arbeiten zwingen? Müssten wir nicht die Chöre der Kommunikationsberater ein wenig leiser drehen?

Ja, das sollten wir! Ich habe heute noch keine Ahnung, wie wir das tun können. Make a system see itself. Frei nach Otto Scharmer wäre das ja schon einmal ein guter Anfang.