17.
Okt.
2020

Herausforderung Digitalisierung?

Ich habe in den letzten Monaten sehr viel im Digitalen gearbeitet: Online-Formate entwickelt, Digital-Know-How aufgebaut und Online-Meetings moderiert. Das mache ich seit vielen Jahren, denn das Digitale ist für mich seit meinem Berufseinstieg vor 20 Jahren völlig normal. Es gehört dazu, wie lesen oder schreiben. Wohl auch deshalb kann ich das Digitalisierungs-Geplapper nicht mehr hören und das digitale Herumwurschteln kaum nachvollziehen. Ich frage mich: Was steckt eigentlich hinter dieser „Herausforderung Digitalisierung“?

Eines ist mir klar: Es geht nicht um die Digitalisierung. Die ist ja in den letzten Jahren richtig einfach geworden. Die eigentliche Herausforderung liegt wo anders: Es sind Menschen und Organisationen, die sich bisher kaum damit auseinander gesetzt haben. Das geht vorbei. Dahinter steckt nicht nur dieses Wurschtel-Mantra, sondern vor allem Entwicklungsverweigerung, die wir momentan in vielen Organisationen und Unternehmen spüren. Die letzte Zeit war lehrreich für mich. Ich habe deshalb meine sieben persönlichen Notizen zur Digitalisierung formuliert. Subjektiv, klar.

Digitales ist für viele noch ziemliches Neuland.

Unter Digitalisierung versteht Wikipedia „das Umwandeln von analogen Werten in digitale Formate und ihre Verarbeitung oder Speicherung in einem digitaltechnischen System“. Das ganze Spiel ist in einer breiteren Bevölkerung seit den 80ern angekommen. Ich kann mich noch gut an den ersten Computer erinnern, dem ich irgendwann in den 80er Jahren in der Hauptschule im tiefsten Lesachtal begegnet bin. Es war großartig, wie wir damals Buchstaben auf Monitore zaubern konnten und eine Maus die Handbewegungen auf den Bildschirm übertrug. Das war für mich der Start.

Jetzt haben wir 2020. Ich bin älter geworden und damit auch alles, was wir heute unter Digitalisierung verstehen. Sind wir mal ehrlich: Wir sind mehr als 40 Jahre alt. Immer noch begegnen mir ganze Bereiche, die sich noch kaum mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Bezeichnend ist, dass wir erst jetzt ein Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort oder einen ersten Masterplan für die Digitalisierung im Bildungswesen haben. Einige scheinen langsam zu bemerken, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine neue Kulturtechnik etabliert hat. Mit dieser nicht mehr ganz so aktuellen Erkenntnis füllen sie als Interessensvertretungen oder Bildungsanbieter ihre Hochglanzfolder bzw. als Politiker ihre Sonntagsreden.

Veränderung ist nicht leicht.

Warum ist das so? Die Frage ist vielleicht so beantwortet: Die eigentliche Herausforderung hinter der Digitalisierung sitzt lernunwillig und mit großen Augen vor einer neuen Welt und hat die letzten 40 Jahre schlichtweg verpennt oder auf der Metaebene der „Chancen und Risiken“ diskutiert. Das kann man tun, nur sinnvoll ist es nicht. „Sorry, Kamera-Problem.“ Das ist wohl der häufigste Satz, den man momentan in Online-Meetings hört. Ich weiß schon, was wirklich dahinter steckt. Aber dennoch ist der Satz bezeichnend. Er zeigt, dass vielen offensichtlich die technologischen Basics unserer Kultur fehlen. Das ist verwunderlich, denn so schwer ist das eigentlich nicht, wenn man sich ein wenig damit auseinandersetzt.

Meine Mama ist über 70ig, sie kann viele digitale Techniken gut bedienen und nutzt seit heuer Online-Banking. An der Technik kann es also nicht scheitern. An der Einstellung und an der Entwicklungsverweigerung schon. Mir ist klar, digitaler Analphabetismus war in den 2000ern eine charmante Charaktereigenschaft von verstaubten Typen und Uni-Professoren. Das war allerdings damals schon komisch. Heute, 20 Jahre später, ist diese Zeit endgültig vorbei. Die eigentlichen Herausforderungen sind unser Denken und unsere Einstellungen. Die zu verändern, zählt allerdings offensichtlich zum Schwierigsten.

Vergangenes bringt uns selten weiter.

Corona hat eine Lupe auf unserere Gesellschaft gelegt. Mancherorts wurde sichtbar, was ist. Veränderte Arbeitsbedingungen haben selbst digitale Verweigerer dazu gezwungen, ihre Aktentaschen stehen zu lassen, Homeoffice und digitale Tools zu nutzen und an Online-Meetings teilzunehmen. Zwar widerwillig, mit lausiger Technik und mit abgeklebten Kameras. Aber immerhin. Ich habe einige dieser Meetings moderiert. Dabei ist mir aufgefallen, dass man sich gerne für das digitale Format entschuldigt. Eine absolute Notlösung! Das Echte ist besser. Das irritiert mich, weil für mich digital auch echt und gut ist.

Ich fand die meisten Online-Meetings gleich produktiv wie deren „echte“ und analoge Vorgänger. Oft waren sie viel effizienter, weil die TeilnehmerInnen vorbereitet waren und sich nicht beim Sudokospielen und in elenden Redeschleifen verwurschtelt haben. In meinem kleinen Wirkungsbereich haben wir uns alle tausende von Autokilometern erspart. Warum muss man sich dafür entschuldigen? Hört auf damit. Seht die Vorteile, seht die vielen großartigen Möglichkeiten, lernt und nutzt sie. Es ist doch absolut genial, was da möglich ist.

Verklärende Vergleiche sind sehr beliebt.

Vergleichen macht unglücklich. Das sagte nicht nur der Philosoph Søren Kierkegaard. Vergleichen ist jedoch sehr beliebt und kommt mir in der Digitalisierung als recht undifferenziertes Match zwischen Digital und Analog unter. Die gute analoge Zeit, mit ihren tollen Vorträgen, Seminaren, Tagungen, Gesprächsrunden oder den wunderbaren Begegnungen wird glorifiziert. Es war alles großartig, als es noch analog war. Ich kenne das auch anders: Die grindige Keynote mit viel zu vielen Folien, den laschen Pausenkaffee, Selbstdarstellung statt Begegnung.

Dieses oberflächliche Vergleichen bringt uns nicht weiter. Wer Analoges und Digitales einfach miteinander vergleicht und gegeneinander antreten lässt, hat deren Qualitäten und Eigenschaften nicht verstanden. Denn diese stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen einander. Ein tiefer Blick, ein zweifelndes Nachfragen, Körperhaltung, der Spirit in einem Team. All das sind Qualitäten einer analogen Begegnung. Schwer digitalisierbar und oft nur wirklich einmalig erlebbar. Kollaboratives Arbeiten, schnelle Feedbacks über tausende Kilometer, weltweite Netzwerksarbeit oder das Arbeiten an unterschiedlichen Orten. All das macht Digitalisierung möglich. In der Integration liegen die spannenden Designs der Zukunft. Darüber sollten wir nachdenken.

Kopieren führt schnell in die Sackgasse.

Die ersten Autos sahen aus wie Kutschen. Dieses Phänomen können wir heute im Digitalen beobachten. Es werden analoge Formate, die oft schon im Analogen nicht wirklich berauschend waren, digitalisiert. Das sind dann etwa digitale Gesprächsrunden, die sich ziehen, weil niemand eine konkrete Frage gestellt hat. Oder es werden Monsterformate digitalisiert, bei denen alle am zweiten Tag die Bildschirme dicht machen und im „Kamera ist hinüber-Modus“ abtauchen. Leute, das geht besser. Darüber muss man aber nachdenken.

Denn Digitales muss von Grund auf anders gedacht werden. Was sind Ziele und Wirkungen? Was passiert vorher, was während einer Session, was zur Nachbereitung? Wie können Cloud- und Kollaborationstools genutzt werden? Was kann ersatzlos reduziert werden? Oft erübrigt sich dann der Instant-Kaffee, der den Teilnehmenden drei Tage vor der Online-Tagung zugestellt wird oder die Aufwärmübung, bei der ein Farbstift durchs Zoom-Meeting gereicht wird. Bauen wir also keine digitalen Kutschen, als billige Kopien schlechter Analog-Formate. Denken wir Digitales vom Ziel her neu. Dann kommen schlanke und wirkungsvolle Formate heraus.

Unwissenheit schützt vor Meinung nicht.

Eine wichtige Spezies habe ich noch nicht erwähnt: Die Mahner. Sie sind mir in den letzten Monaten oft begegnet. Sie haben die Eigenschaft, dass sie mit Halbwissen und dem Hinweis auf Datenschutz erste digitale Überlegungen im Keim ersticken. Nicht falsch verstehen, ich halte Datenschutz und alle Rechte und gesetzlichen Fragen im Digitalen für äußerst wichtig. Es gibt viel zu tun! Ich werde aber ein wenig unrund, wenn mit technischem Halbwissen und fragwürdigen Inhalten argumentiert wird und dahinter Unkenntnis oder  Angst vor Veränderung stecken.

In meinem Umfeld gab es noch nie so viele Datenschutz-Experten, wie am Beginn der Corona-Zeit. Ich habe dabei auch viel Blödsinn gehört. Fragwürdige Medienberichte bildeten beispielsweise im Bildungsbereich die Grundlage für Verbote. Zwischen Serverstandort, Verschlüsselung und Einstellungen am lokalen Gerät wird dabei nicht unterschieden. Für all das hätte es, beispielsweise für Schulen, klare Anleitungen und Sicherheits-Checklisten gebraucht. Den Rest kann man sich sparen. Er ist Angst und Panikmache und zeigt, dass es an digitaler Basisbildung mangelt.

Tun Tank nach dem Best Effort-Prinzip.

Es gab auch ein paar wirkliche Lichtblicke in den letzten Monaten. Für einen hat Barbara Josef gesorgt. In einem Podcastgespräch im ICH WIR ALLE Podcast berichtet sie von einem simplen Zugang: Best Effort. Jeder gibt sein Bestes. Das muss in einer so ausserordentlichen Lage reichen. „Ich hoffe“, sagt Barbara Josef, „dieses Prinzip löst das unsinnige Streben nach einer Fehlerkultur ab.“ Ich auch!

Ich finde den Gedanken gut und wünsche uns allen ein wenig mehr Mut, Gelassenheit und Freude beim Anwenden und Ausprobieren dieser genialen digitalen Möglichkeiten. Vielleicht ersparen wir uns damit die eine oder andere Hochglanzbroschüre, einen weiteren Think Tank oder ein Ministerium für Digitalisierung. Denn eines ist klar, ob wir Digitalisierung erfolgreich nutzen oder nicht, das entscheidet sich in unserem Kopf.